Kann man Stickstoff essen? Und wonach schmeckt der grüne Farbstoff eines Birkenblattes? Vermutlich waren das nicht die eigentlichen Fragen, die Ferran Adrià auf seinem Weg, einer der weltweit bekanntesten Köche zu werden, wirklich angetrieben haben. Dennoch hat er sie beantwortet – und damit zugleich eine neue Form der Gastronomie zum Leben erweckt, deren Bedeutung heute weit in die allgemeine Lebensmittelindustrie hineinreicht.
Ferran Adria: Vom Tellerwäscher zum Millionär mit Schaum & Co.
Eigentlich stammt Ferran Adrià aus bürgerlichen Verhältnissen. Der Sohn eines Malermeisters ist aber bestrebt, Karriere zu machen und später einmal die Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Doch wie bei vielen anderen Menschen, so kommt auch bei ihm der Zufall dazwischen: Für einen geplanten Sommerurlaub jobbt der Teenager in einer Hotelküche, wo er mit dem Waschen der Teller, mit der Zubereitung von leichten Salaten und mit dem Erledigen sonstiger Tätigkeiten betraut wird, die für das Hilfspersonal der Gastronomie anfallen.
Hier erlebt Ferran Adrià einerseits seine Liebe für das Kochen – andererseits nimmt er spannende Erkenntnisse mit, die ihn von der normalen Herstellung der Speisen ein wenig Abstand nehmen lassen. Denn der Jugendliche ist fasziniert davon, wie die Lebensmittel unter dem Einfluss von Zeit, Wärme und Kälte sowie in einer gegenseitigen Wechselwirkung ihre Konsistenz, die Farbe oder den Geschmack verändern. Eine wichtige Lektion für das, was später einmal als Molekularküche berühmt werden soll.
Zutritt zur Welt der gehobenen Küche
Ferran Adrià durchläuft mehrere Restaurants, arbeitet während seines Armeedienstes in der Küche und erwirbt sich auf diese Weise bereits in jungen Jahren jene Erfahrungen, die ihm zahlreiche Türen öffnen. Unter ihnen befindet sich auch das Lokal El Bulli an der spanischen Costa Brava – die einst von deutschen Betreibern eines Golfplatzes als zusätzliches Angebot zum Verzehren von Snacks und Getränken gegründete Bar hatte sich bis in die frühen 1980er Jahre zur Gastronomie der Spitzenklasse entwickelt und blickte seinerzeit bereits auf einen Michelin-Stern zurück.
Das passende Umfeld also für den aufstrebenden Koch – der hier zudem die Möglichkeit erhält, die eigene Kreativität ein wenig auszuleben und auch abseits der konventionellen Küche einmal Neuland zu betreten. Dass es das Restaurant später unter der Leitung Adriàs zu weltweitem Ruhm und insgesamt fünf Michelin-Sternen bis zur Jahrtausendwende bringen würde, war natürlich nicht absehbar.
Ferran Adria: Irgendwo zwischen Handwerk und Wissenschaft
Noch ein weiteres Merkmal wird das El Bulli ab den 1990er Jahren kennzeichnen: Das Lokal hat nur sechs Monate im Jahr geöffnet, die verfügbaren Plätze sind oft über mehrere Jahre im Voraus reserviert. Selbst die Prominenz aus Musik, Film, Sport und Politik schafft es in der Regel nicht, sich kurzfristig für einen Tisch zu bewerben. Doch wie verbringt Ferran Adrià eigentlich die Zeit in jenem halben Jahr, in dem keine Gäste empfangen werden? Dann arbeitet der Spanier an neuen Kreationen.
Denn er selbst sieht sich nicht zwingend als Koch, der die Lebensmittel auf gewohnte Weise zubereitet. Vielmehr versteht er sich als Handwerker, als Künstler und Wissenschaftler. Er versucht, im Rahmen der von ihm kreierten Molekularküche mit den Erkenntnissen der Biologie, der Chemie und der Physik zu neuen Entwicklungen zu gelangen. Ferran Adrià bewegt sich damit in einem Bereich, der in den anderthalb bis zwei Dekaden vor der Jahrtausendwende nahezu unerschlossen ist.
Schaum & Co.: Auf der Suche nach etwas Neuem
Bei seiner Arbeit geht es dem Koch nicht unbedingt darum, vielleicht mal etwas Gewagtes auszuprobieren. Vielmehr möchte er ein völlig neues Denken in der Küche etablieren: Wie lassen sich Zustände miteinander vereinen, die gänzlich gegensätzlich wirken? Wie kann die kalte Eiskugel eine heiße Soßenschicht erhalten, ohne unter ihr zu schmelzen?
Herkömmliche Zutaten werden von Adrià aufgeschäumt und zu einem Gel verarbeitet, sie werden stark erhitzt und direkt danach abgekühlt, sie werden in Farbe und Konsistenz bis zur Unkenntlichkeit verändert – und sie erhalten dadurch sowie im Zusammenspiel mit anderen Speisen einen unverwechselbaren Geschmack. Er soll beim Genießer zu neuen Gedanken und Gefühlen führen, die Gastronomie also auch emotional erlebbar machen. Neben den üblichen Nahrungsmitteln greift Ferran Adrià dafür auf unterschiedliche Chemikalien und auf von ihm entwickelte Zubereitungsverfahren zurück – zuweilen gleicht sein Arbeitsbereich mehr dem Labor als der Küche.
Von der gehobenen Gastronomie in den Alltag
Bis in die 2010er Jahre hinein hat Adrià das El Bulli nicht nur betrieben, sondern es zugleich zu einem der besten Restaurants weltweit ausgebaut. Für die hiesigen Gerichte, die nicht selten aus bis zu 50 einzelnen Gängen bestanden, griffen die Gäste tief in die Tasche: Mit passendem Wein konnte ein Menü schnell einmal mehrere einhundert Euro kosten. Das El Bulli bewirtet heute indes keine Genießer mehr, sondern es wurde zu einem Museum umgebaut.
Für Ferran Adrià bleibt nach vielen Jahren der experimentellen Küche aber nicht nur der Ruhm – sondern auch die Erkenntnis, dass die moderne Lebensmittelindustrie ohne seine Weiterentwicklungen heute kaum denkbar wäre. Denn Adrià hat Zubereitungsverfahren erschaffen, die gegenwärtig in der Massenproduktion eine wichtige Rolle spielen. Er hat somit nicht nur interessante Speisen gekocht – sondern vielleicht die Art und Weise revolutioniert, wie sich die Menschen in der Gegenwart ernähren.